Christ und Welt

von Johanna Haberer

Die traut sich was

Sally Azar ist eine Ausnahmefigur der protestantischen Kirche: Die 27-jährige Palästinenserin arbeitet als Pfarrerin in Jerusalem und predigt vom Ölberg Frieden. Das hat seinen Preis.

Auf dem Ölberg in Jerusalem, dort, wo man über die judäischen Berge bis zum Toten Meer schauen kann, ist sie mir zum ersten Mal begegnet. Die Haare schwarz wie Ebenholz, ein spöttisches Funkeln in den Augen, in einem weißen Talar mit roter Stola. Sally Azar trug das geistliche Gewand, als wäre sie darin geboren, bei diesem Gottesdienst an Himmelfahrt, der in drei Sprachen gefeiert wurde, in Arabisch, Englisch und Deutsch.

Sally Azar ist eine Ausnahmefigur der protestantischen Kirche. Sie ist die erste Pastorin in der evangelischen arabischen Gemeinde, gerade einmal 27 Jahre alt. Als ich sie kennenlernte, beamte es mich für einen Augenblick in eine Zeit zurück vor über vierzig Jahren, als ich in Bayern als eine der ersten Frauen offiziell ins geistliche Amt ordiniert wurde.

Ich fing damals als Lehrvikarin im Spessart an, und die evangelischen Kirchengemeinden mussten noch offiziell gefragt werden, ob sie eine Frau als künftige Pfarrerin akzeptieren würden. In Deutschland war die Zeit Anfang der Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts überreif für Frauen im geistlichen Amt. Die Gemeinden waren in der Regel fortschrittlicher als die Theologen und empfingen mich als junge Frau im Talar mit offenen Armen. Der Kirchenbesuch schwoll an, und für mich fühlte es sich wie ein Abenteuer an, Pionierin zu sein in einem Beruf, der bis dahin ausschließlich Männern vorbehalten war.

Heute bin ich im Ruhestand und habe im vergangenen Jahr vier Monate lang die Pfarrstelle an der Himmelfahrtkirche auf dem Ölberg in Jerusalem vertreten. Da begegnete ich, noch vor dem grauenhaften Gemetzel der Hamas, dieser »kleinen Schwester«, die heute ungefähr so alt ist wie ich damals. Und die derzeit in einer unmöglichen Situation um das ringt, was unsere Kirche predigt: Frieden. Wer ist diese Frau? Und was treibt sie an? Das wollte ich besser verstehen.

Es war noch nicht lange her, dass Sally Azar als erste Frau in eine kleine Kirche mit einem ewig langen Namen hineinordiniert worden war: in die »Evangelisch-lutherische Kirche in Jordanien und im Heiligen Land«. Inmitten der geweihten Häupter in Jerusalem ist sie ein Politikum, denn unter den christlichen Armeniern, den Orthodoxen und Katholiken hat sich noch nicht herumgesprochen, dass weibliche Geistliche einen Platz bei Gottes Bodenpersonal haben könnten.

Wie ich während meiner Zeit dort feststellte, haben paradoxerweise besonders die Frauen in den arabisch-christlichen Gemeinden Mühe, eine Pastorin als geistliche Autorität zu akzeptieren. Zu tief sind wohl die kulturellen Prägungen der muslimischen Umgebung, in der die Rolle der Frau als Dienerin der Familie allzu häufig festgeschrieben scheint.

Als ich Sally Azar damals fragte, ob sich palästinensische Frauen über innere Nöte mit ihr aussprechen würden, schüttelte sie nur den Kopf. Persönliche Probleme würden in ihrer Kultur ganz selten artikuliert, sagte sie, auch nicht unter Frauen. »Man spricht nicht über den Schmerz.«

Sally Azar ist dennoch so etwas wie die personifizierte Hoffnung. Sie gehört zu den intellektuellen Palästinenserinnen, sie predigt auf Arabisch und Englisch. Sie spricht ein ausgezeichnetes Deutsch, das sie in einer deutschsprachigen evangelischen Schule in Ostjerusalem er-lernt und im Lehrvikariat in Berlin verfeinert hat. Ihr Studium der interkulturellen Theologie in Göttingen hat sie in englischer Sprache absolviert. Hebräisch kann sie lesen und verstehen. In einer Region, in der jeden Tag Raketen fliegen, Bomben fallen, Menschen festgehalten und getötet werden, ist ihr Ansatz ein radikaler: beide Seiten zu sehen. Doch diese Haltung hat ihren Preis.

Vor einigen Tagen treffe ich Sally Azar wieder. Ich habe sie eingeladen, nach Hamburg, zu einer Diskussion im Gemeindehaus der Sankt-Petri-Kirche. Wir wollen sprechen über die Lage der palästinensischen Christen. Sie ist herzlich wie immer, aber das spöttische Funkeln in ihren Augen, das ist verschwunden. Azar wirkt besorgt und gehetzt. Sie wird gerade herumgereicht, denn sie gilt als eine der wenigen Personen, die die Lage der Palästinenser im Westjordanland aus erster Hand schildern können und dabei vor Augen haben, dass in Deutschland zu diesem Thema ein gewisser Bekenntniszwang zu herrschen scheint: Man ist entweder für Israel oder für Palästina.

Doch die politischen Bekenntnisse in Deutschland interessieren Azar nicht. »Wir im Westjordanland haben andere Probleme. Richtige«, sagt sie, als wir gemeinsam auf der Bühne des Gemeindesaals stehen. Sie spricht ernst, eindringlich und bittet die evangelischen Christen, weniger zu urteilen, sondern den Schmerz der Menschen zu sehen. Den Schmerz auf beiden Seiten.

Sie erzählt von den Christen in Gaza, die sie nicht mehr telefonisch erreichen können. Und von denen, die sich in eine Kirche geflüchtet haben und dort angegriffen wurden. Und von einer christlichen Familie, die zwölf ihrer Mitglieder betrauert. Zwölf. Sally Azar sorgt sich besonders um die jungen Menschen, um ihre jungen Gemeindeglieder, die Angst haben, verbittert sind und keine Zukunft sehen.

Die Checkpoints nach Israel sind geschlossen, viele Menschen können nicht zur Arbeit fahren, sie verdienen nichts mehr, in der Altstadt von Jerusalem herrscht gespenstische Ruhe. In der Westbank hungern manche schon, und die Gruppen, die sich seit Jahrzehnten um eine Aussöhnung zwischen Israelis und Palästinensern bemüht haben, scheinen ihr immer noch vor Entsetzen paralysiert.

Die Konfirmandinnen, deren Zukunft gerade vollends zum schwarzen Loch wird, fragen Azar: Ist das das Ende? Und: Was haben wir falsch gemacht?

Sally Azar hat darauf keine direkte Antwort. Aber sie weiß genau, wofür sie einsteht. Die Tochter des lutherischen Bischofs ist mit dem Alten Testament und den jüdischen Psalmen aufgewachsen. Wenn sie zum »Gott Israels« betet, meint sie nicht den Staat oder den national-religiösen Topos, den Rabbiner in den Jerusalemer Synagogen meinen, sondern sie betet zum Gott aller Menschen.

Die Christen sind in diesem von Hass und Trauer zersplitterten Landstrich eine der ganz wenigen Gruppen, die zum Frieden auf Augenhöhe mahnen und Gewaltlosigkeit propagieren. In diesem Sinne fühlen sie sich als Nachkommen der ersten Jünger Jesu.

Die Weltkirche hat am vergangenen Freitag den Weltgebetstag der Frauen gefeiert. In diesem Jahr kamen die Gebete aus Palästina. Sally Azar gehörte dem Komitee für den Weltgebetstag an, kurz nach dem Massaker der Hamas veröffentlichte es eine eindrückliche Erklärung, die in einen Appell mündete: »Unser Aufruf zu Menschlichkeit und Mitgefühl geht über religiöse oder politische Zugehörigkeiten hinaus. Wir streben nach einer Welt, in der die Rechte und die Würde aller Menschen geachtet und gewahrt werden. Lasst uns alle zusammenstehen im Geiste der Empathie, des Verständnisses und der Solidarität und gemeinsam arbeiten für eine hellere und friedlichere Zukunft für alle!«

Es ist sicherlich nicht ohne Risiko, solche Sätze zu schreiben. Der Arm der Hamas ist auch im Westjordanland lang. Viele wispern mit den Vertrauten hinter den Häuserwänden und schweigen dröhnend in der Öffentlichkeit. Sally Azar tut das nicht. Sie zeigt sich, sie sagt ihre Meinung. Sie gehört zu den viel weniger gewordenen interkulturellen Grenzgängern im Westjordanland: Sie ist eine christliche Araberin. Sie predigt die Hoffnungstexte des Juden Jesus. Sie ist eine Frau in einer traditionellen arabischen Kultur, die um Akzeptanz ihrer führenden Rolle in der Gemeinde kämpft. Sie ist Pazifistin und fühlt sich zugleich solidarisch mit denen, die die Besatzung anprangern, unter der die Palästinenser leben.

Könne sie sich vorstellen, als Pfarrerin in Deutschland zu arbeiten, frage ich sie. »Nein«, sagt sie, »in Palästina ist jetzt mein Platz.«

Ob sie sich in einen Israeli verlieben dürfte? Sie presst die Lippen zusammen und schweigt, als wollte sie sagen: Da ist gar nicht daran zu denken.

Betet sie auch für die jüdischen Opfer der Hamas? »Ja!«

Sally Azar hat jüdische Freundinnen, zum Beispiel die Rabbinerin einer liberalen jüdischen Gemeinde. Der große Konflikt in der Region ist für sie nur vordergründig ein religiöser. Sie glaubt, dass die Verwerfungen zwischen Juden und Muslimen immer nur ein Vorwand sind für den Streit um politische Ansprüche. Deshalb hält sie es für die Aufgabe der christlichen Gemeinden, hinter dem religiösen Gestus der verfeindeten Parteien die politische Agenda zu entlarven – gerade jetzt, da die Angst im Westjordanland groß ist vor einer neuen Eskalation im muslimischen Fastenmonat Ramadan, der am 10. März beginnt.

Das zu tun, ist schwer. Mindestens genauso schwer ist es, Gehör zu finden. Denn die Christen werden immer weniger. Die jungen gebildeten, die eine europäische Sprache gelernt haben, wollen im Ausland studieren. Dort haben sie Kontakte und eine Zukunft. Meist schwören sie ihren Familien, wieder nach Hause zu kommen. Dann erleben sie die Freiheit und was es bedeutet, Rechte zu haben und Chancen – beruflich wie privat. Viele brechen ihr Versprechen. Sie können einfach nicht mehr zurück. So erlebt es Azar in ihrem Umfeld, immer wieder.

Ob es in zwanzig Jahren in der Region überhaupt noch Christen geben werde oder ob sie still verschwinden werden wie im Libanon und in Syrien, frage ich Sally Azar. »Wir werden wenige sein«, antwortet sie. »Aber wir werden da sein.« Und sie fügt hinzu: »Wir werden frei sein und aufrecht stehen«, das habe sie von Martin Luther gelernt.

Ich denke: Wie viel mehr Mut, Zuversicht und Glaube braucht diese Frau, um ihre Überzeugungen in ihre Welt tragen zu können, als es bei mir damals der Fall war?

Johanna Haberer, 67, ist emeritierte Professorin für Theologie und Medien an der Universität Erlangen-Nürnberg. Gemeinsam mit ihrer Schwester Sabine Rückert macht sie den ZEIT-Podcast »Unter Pfarrerstöchtern«

Foto: Jonas Opperskalski für ZEIT Christ&Welt Foto: Vera Tammen für DIE ZEIT

Innsbruck Auferstehungskirche

Evangelische Pfarrgemeinde
Innsbruck Auferstehungskirche

Gutshofweg 8, 6020 Innsbruck

Details

Auferstehungskirche: Sonntag, 10.00 Uhr, 1. Sonntag im Monat 18.00 Uhr

Predigtstationen:
Hall – Johanneskapelle: Sonntag, 10.00 Uhr
Neustift: letzter Sonntag im Monat 18.00 Uhr (Feiertage: siehe Homepage)
Medraz: in den Sommermonaten 10.00 Uhr (siehe Homepage)